Handwerk Special 57 vom 11.09.1997


Baustelle am Ende der Welt

Wie ein Andernacher Buddhas Tempel rettet

Hier kommt die Sonne aus dem Meer. Hier beginnen neue Tage. Hier lebt die Vergangenheit und ist die Zukunft Zuhause - vom Kaiser bis zum Videorecorder. Hier ist die Welt zu Ende. Und ihr Anfang. Hier ist Japan.

Christoph Henrichsen

Zwischen dem rheinischen Andernach und dem japanischen Osaka liegt die halbe Welt. Fast einen Tag ist Tischlermeister Christoph Henrichsen mit dem Flugzeug unterwegs, wenn er sich nach einem der eher seltenen Besuche bei den Eltern auf den Weg zum Arbeitsplatz macht. Der befindet sich in einer buddhistischen Tempelstadt, 120 Kilometer südöstlich von Osaka. "Ich bin unter 4000 Bewohnern der einzige Europäer - ein Exot, der auffällt. Es ist leicht, die Menschen hier anzusprechen, doch andererseits ist man ständig im Visier der Umgebung", beschreibt der 34jährige Handwerksmeister seine Rolle im sozialen Gefüge. Anfang des 9. Jahrhunderts zogen sich die buddhistischen Mönche auf das Hochplateau zurück und errichteten dort ihre Tempel. Diese Bauwerke sind es, an deren Erhaltung der Deutsche als Handwerker mitarbeitet - eine Auszeichnung. "Es gibt kaum Ausländer, die Hand an diese japanische Domäne legen dürfen - wie würde es wohl einem japanischen Steinmetz ergehen, der den Kölner Dom restaurieren wollte..."

Alle 30 Jahre stehen kleinere Reparaturen an, so am Dach, das ausschließlich aus Baumrinde besteht. Nach 100 Jahren werden die Glaubensstätten in "große Kur" geschickt und in ihren Einzelteilen auseinandergenommen - alle aus Holz und ohne Nägel oder Schraube miteinander verbunden. "Das funktioniert wie ein Baukastensystem. Durch spezielle Formverbindungen - Schloß genannt - lassen sich die Holzbauteile an ihren Enden ´ineinanderstecken´, zur Restaurierung werden sie wieder auseinandergezogen." Eine Technik, die Jahrhunderte alt ist und erfolgreich bis zum heutigen Tag: "Die Bauweise ermöglicht eine ständige Luftzirkulation, so daß das Holz nicht faulen kann." 50 Prozent der rund 12.000 Bauteile stammen aus der Erbauungszeit und sind 700 Jahre alt. Der Deutsche hat Gebäude gesehen, die seit 400 Jahren ohne "chirurgischen Eingriff" der Restauratoren auskamen. "Nur etwa 10 Prozent der Bauteile werden pro Restaurierung ausgetauscht, natürlich in der gleichen Holzart, in die das richtige ´Steckmodul´ gearbeitet wird."

Für den Tischlermeister aus "good old germany" kein Problem, denn hinter dem deutschen Meisterbrief steckt "Substanz, die in Japan einen hohen Stellenwert genießt". Bäcker, Fleischer, Konditoren und immer häufiger Brauer nutzen den Titel "Meister" als wirksames Werbemittel im Land der aufgehenden Sonne. Der deutsche Titel zählt in der High-Tech-Nation Japan soviel, daß er nicht übersetzt wird und als bekanntes Fremdwort Bestandteil des japanischen Sprachschatzes ist.

Christoph Henrichsen legte seine Meisterprüfung 1995 ab, als bester seines Lehrgangs. Zuvor schloß er in Köln ein Studium der Japanologie und Kunstgeschichte ab. Die Idee, in Japan zu arbeiten, kam ihm während einer Fahrradtour über die asiatische Insel. In mehr als 50 Holzwerkstätten schaute der Deutsche hinein und machte sich ein Bild vom japanischen Handwerk, das in seinem Beruf über 100 Fachrichtungen kennt - vom Löffelschnitzer bis zum Trommelbauer. "Ein Stipendium ermöglichte mir ein Studium an der Sophia-Universität in Tokyo - dort erlernte ich die japanische Sprache." Mit den Restaurierungsarbeiten an japanischen Tempelbauten begann der Handwerker seine Promotion auf diesem Fachgebiet, die er in den nächsten Monaten abschließen will.

Doch nicht nur im Umgang mit seinen Spezialwerkzeugen versteht der Andernacher sein Handwerk. Zu den "Nebenjobs" zählen auch diverse Fernsehauftritte und Zeitungsreportagen über seine Arbeit sowie das Dolmetschen. Zu den prominentesten "Kunden" in Sachen sprachlicher Verständigung zählte die Bayrische Staatsoper während einer Japan-Tournee. Im Auftrag der japanischen Regierung unternimmt er mit Denkmalpflegern "Fachausflüge" nach Deutschland und erläutert europäische Techniken im Umgang mit historischer Bausubstanz.

Demnächst startet Christoph Henrichsen in mehreren japanischen Städten eine Vortragsreihe zum dualen deutschen Ausbildungssystem. "Handwerk hat in Japan Tradition, doch wurde es von der einsetzenden Industrialisierung nach dem Krieg überrollt. Die Regierung unternimmt heute große Anstrengungen, um die vielfältigen Handwerksberufe zu retten, und das fängt - wie auch in Deutschland - mit einer soliden Ausbildung an."

Selbst die handwerklichen Unternehmensstrukturen sind im hochentwickelten Japan renovierungsbedürftig: Die wenigen großen Baufirmen "beschäftigen" die vielen mittelständischen Betriebe als Subunternehmen, ein breiter, wirtschaftlich selbständiger Mittelstand fehlt.

Handwerk ist für Tischler Henrichsen längst ein internationaler Full-time-job. Selbst bei seinen Kurzbesuchen in der Heimat reist er für seinen Beruf umher. Heute ein Fernsehfilm mit dem Norddeutschen Rundfunk in Hamburg, morgen eine Tagung in Mannheim. Zwischendurch die Eltern besuchen, in Andernach, wo die Reise ins Land der aufgehenden Sonne einst mit der Tischlerlehre begann...