Handwerk Special 110 vom 04.03.2006


EU-Dienstleistungsrichtlinie und Mehrwertsteuersatz

Nachgefragt bei HwK-Präsident Karl-Heinz Scherhag

Die EU-Dienstleistungsrichtlinie hat auch im Kammerbezirk Koblenz hohe Wogen geschlagen. Jetzt beschloss das EU-Parlament einen Kompromiss - im Sinne des Handwerks, wie HwK-Präsident Karl-Heinz Scherhag sein Fazit zieht. Weiter auf der Tagesordnung bleibt für ihn das Thema reduzierter Mehrwertsteuer für arbeitsintensive Dienstleistungen.

Foto: HwK-Präsident Karl-Heinz Scherhag nimmt zu aktuellen politischen Fragen Stellung.
HwK-Präsident Karl-Heinz Scherhag nimmt zu aktuellen politischen Fragen Stellung.

Herr Scherhag, warum hat sich das Handwerk so vehement gegen den ursprünglichen Entwurf der EU-Dienstleistungsrichtlinie gewehrt?

Bei der Diskussion um die EU-Dienstleistungsrichtlinie geht es um eine grundlegende Entscheidung über die Ausrichtung der Volkswirtschaft. Wollen wir in Europa einer liberalen Wirtschaftstheorie in Reinform folgen oder setzen wir auf die in Deutschland verankerte und über Jahrzehnte bewährte soziale Marktwirtschaft? Diese Grundsatzfrage galt es zu entscheiden.

Das EU-Parlament hat jetzt einen Kompromiss verabschiedet, dem das Handwerk zustimmen kann ...

Das Handwerk stellt sich dem Wettbewerb - auch vor dem euro-päischen Horizont. Aber zu fairen Bedingungen. Unsere Sozialstandards und unser hohes Qualifizierungsniveau dürfen nicht über einen ruinösen Wettbewerb unterlaufen werden. Die ursprünglich von der EU vorgelegte Dienstleistungsrichtlinie sah das Herkunftslandprinzip vor. Demnach hätte jeder Handwerker aus einem EU-Land in Deutschland seine Dienstleistung im Wesentlichen nach den Gesetzen des Landes erbringen können, in dem er niedergelassen ist. Dieser Ansatz hätte unser Arbeits- und Tarifrecht ausgehebelt. Der Kompromiss formuliert jetzt umgekehrt. Wer in Deutschland seine Dienstleistungen anbietet, muss sich dem Wettbewerb auf gleicher Augenhöhe mit unseren Betrieben stellen. Insofern hat es sich ausgezahlt, dass sich die Handwerksorganisationen in Berlin und Brüssel dafür stark gemacht haben, eine Regelung zu verhindern, die den Interessen des Handwerks zuwiderläuft. Auch wir als Kammer Koblenz haben im Dialog mit der Landespolitik unseren Teil dazu beigetragen - ein gutes Beispiel für Aufgabe und Nutzen einer auf die Pflichtmitgliedschaft gestützten starken Selbstverwaltung.

Qualität setzt sich durch, heißt es immer wieder. Ist das Handwerk fit für den freien Wettbewerb in Europa?

Dem Handwerk geht es wirklich nicht um Abschottung seines Wirtschaftszweiges. Aber nach unserem Verständnis von sozialer Marktwirtschaft müssen faire Wettbewerbsbedingungen die Grundlage des freien Marktzugangs bilden. Wir wollen die Öffnung des europäischen Dienstleistungsmarktes. Wenn jetzt der Marktzugang für den Mittelstand erleichtert und unnötige bürokratische Hürden abgebaut werden, ist das auch für unsere Mitgliedsbetriebe eine Chance, sich neue Märkte zu erschließen. Ja, Qualität aus unseren Betrieben mit ihrer hohen Qualifikation setzt sich weiter durch. Das sehe ich sehr zuversichtlich.

Sind Sie auch in der Frage der reduzierten Mehrwertsteuer für arbeitsintensive Dienstleistungen optimistisch?

Wir haben wiederholt auf die Sinnhaftigkeit dieser Mehrwertsteueroption hingewiesen. Nach zähem Ringen in der EU steht jetzt auch Deutschland die Möglichkeit offen, in den Bereichen Wohnungsrenovierung und -reinigung, häusliche Pflege, Friseurdienstleistungen und Kleinreparaturen den Steuersatz zu senken. Noch einmal das Beispiel Frankreich: Die Reduzierung der Mehrwertsteuer von 19,6 auf 5,5 % hat dort für das Bauhandwerk eine Umsatzsteigerung von 1,4 Milliarden Euro und 40.000 neue Arbeitsplätze gebracht - in einem Bereich, der besonders von Schwarzarbeit geprägt war. In der Summe bringt der Verzicht auf den Mehrwertsteueranteil höhere Einnahmen für die sozialen Sicherungssysteme und die Staatskasse. Gemeinsam mit dem ZDH treten wir bei der Bundesregierung für ein Umdenken ein.